Der große Wolf ist ein Einzelgänger. Lange schon lebt er allein unter seinem Baum, oben auf dem Hügel. Eines Tages kommt von weitem ein anderes Wesen herbei, das sich als kleiner Wolf herausstellt. Zunächst reden sie nicht miteinander. Sich näher zu kommen, einander vertraut werden braucht Zeit. Zu viele Worte stören da manchmal. Der kleine Wolf lernt etliches vom großen Wolf. Klettern etwa, und am nächsten Morgen sorgt der Große auch für das Frühstück.
Danach macht er sich auf zu einem längeren Spaziergang, wie das Wölfe so tun, und als er zurückkommt, ist der kleine Wolf weg. War ihm die neue Gesellschaft zuerst eher lästig gewesen, beginnt er den kleinen Wolf von der ersten Sekunde an zu vermissen. Er isst nichts mehr. Nun ist er wieder allein, aber jetzt ist er zum ersten Mal in seinem Leben traurig.
„Zum ersten Mal in seinen Leben dachte er, dass etwas Kleines, ja sogar ganz Kleines, im Herzen einen großen Platz haben kann, einen sehr, sehr großen Platz.“
Er sehnt den kleinen Wolf herbei, nimmt sich alles Mögliche vor, wenn er doch nur zurückkäme. Einen ganzen langen Winter wartet er, geduldig und voller Sehnsucht im Herzen, die der kleine Wolf ausgelöst hatte.
Und mit dem Frühling taucht wieder ein kleiner Punkt am Horizont auf. Es ist der kleine Wolf …
So endet das letzte Buch einer Reihe, die mittlerweile als „große Bilderbuchkunst“ (FAZ) nicht nur vielen Kindern, sondern auch Erwachsenen ans Herz gewachsen ist. Denn die Geschichten vom großen Wolf und dem kleinen Wolf erzählen etwas vom Verhältnis zwischen den Großen und den Kleinen, von deren Drang nach Selbständigkeit und von der unendlichen Liebe der Großen zu den Kleinen, die sie besonders dann spüren, wenn sie gerade nicht da sind.
Auch im neuen Buch ist der kleine Wolf auf einmal verschwunden. Er will eine Orange, die der große Wolf geerntet, aber mit zuviel Schwung dem kleinen Wolf zugeworfen hatte, wieder holen, denn sie ist in einen Wald hineingerollt und verschwunden.
Der große Wolf freut sich und wartet geduldig, aber dann bekommt er Angst. Was ist, wenn der kleine Wolf nicht zurückkehrt? Und er macht sich auf Suche durch den unbekannten Wald, hinein ins das Dunkel der Städte und U-Bahnen. „Er heulte so laut, wie noch nie ein Wolf geheult hatte. Weil auch noch nie ein Wolf einen kleinen Wolf so sehr geliebt hatte.“
Irgendwann wird es hell, und der große Wolf sieht den kleinen Wolf auf einem Hügel im Schatten eines Baumes sitzen. Laut schimpfend und den kleinen Wolf mit Vorwürfen überhäufend, stürmt er den Hügel hinauf. Und während er seinen geliebten kleinen Wolf noch anklagt, fällt ihm etwas auf:
„Da im Schatten stand der kleine Wolf.
Und schaute ihn an.
Auch er war nicht genau derselbe:
Seine Augen strahlten anders und sein Lächeln auch.
Das gefiel dem großen Wolf.“
Ein wunderschönes Bilderbuch von den Großen und ihrer Liebe zu den Kleinen, und wie sie es lernen können, deren Selbständigwerden zu achten.
Nadine Brun-Cosme, Olivier Tallec, Großer & kleiner Wolf. Von der Kunst, das Glück wiederzufinden, Gerstenberg 2011, ISBN 978-3-8369-5394-8
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Gastartikel von Winfried Stanzick