Peter Varnavas - Die wichtigen Dinge
Peter Varnavas – Die wichtigen Dinge

Menschen denken in Geschichten. Das gilt für Erwachsene wie für Kinder. Geschichten ermöglichen, unterschiedliche Menschen und ihre Verhaltensweisen, die Beziehungen zwischen ihnen und deren Veränderung im Laufe der Zeit darzustellen und zu erfassen, erlebbar zu machen – Liebe und Streit, Glück und Unglück. Ein Mensch, der eine Geschichte hört oder liest, identifiziert sich – bewusst oder unbewusst – mit den Personen in dieser Geschichte. Die psychische Entwicklung des Einzelnen wird unter anderem davon bestimmt, in welchen Geschichten er sich selbst sieht oder erlebt. Wer sich als Akteur in einer Geschichte mit einem unglücklichen Ausgang sieht, wird anders handeln als derjenige, der sich in einer Geschichte mit einem glücklichen Ausgang sieht.

Das ist ein Auszug aus dem Credo der Kinderbuchreihe des Carl Auer Verlags, in der das vorliegende Bilderbuch von Peter Carnavas erschienen ist. Auch die dort erzählte Geschichte ist eine „heilende Geschichte“, handelt sie doch von einer Situation, in die leider immer mehr Kinder kommen, ohne dass in der Zukunft ein Ende dieser Entwicklung abzusehen wäre. Es geht um Kinder, denen irgendwann in der Kindheit der Vater abhanden kommt, weil er sich einfach aus dem Staub macht und aus der bisher gemeinsam mit der Mutter getragenen Verantwortung flieht.

So geht es auch dem kleinen Christopher und seiner Mutter. Der Vater ist einfach aus ihrem Leben verschwunden. Die Mutter muss nun alles alleine machen. Eines Tages beginnt sie damit, all die alten Sachen des Vaters in einen Karton zu packen, kleine, unwichtige Dinge, wie sie meint. Eine kaputte Kaffeetasse, ein Paar alte Schuhe, ein Heft voller Klaviernoten und einen grünen Hut. Gemeinsam bringen Christopher und seine Mutter den Karton in die Stadt zu einem Trödler. Scheinbar „vernünftig“ will sich die Mutter von der Erinnerung an eine verlorene Zeit „befreien“. Nach vorn schauen, nicht zurückblicken, sich und dem Sohn die schmerzhaften Gefühle ersparen.

Einige Tage später passiert etwas sehr Seltsames. Fast alle scheinbar unwichtigen Dinge, die sie weggebracht hatten, sind wieder da. Als sie den Trödler aufsuchen und ihn fragen, schweigt er, als wisse er von nichts.

Christophers Mutter ist sehr beunruhigt, und als sie in der Nacht nicht schlafen kann, findet sie ihren Sohn dabei, wie er gerade den alten grünen Hut, der noch nicht aufgetaucht war, aufhängt. Auch ihn hatte er nämlich noch beim Trödler geholt. „Ich wollte mich erinnern“, sagt Christopher auf ihre erstaunte Frage, warum er das gemacht habe. „Und ich wollte vergessen“, sagt sie sichtlich erschüttert.

Und all die anderen kleinen, aber wichtigen Dinge, die der Vater zurückgelassen hat, bekommen am nächsten Tag ihren Platz.

Dort können sie so lange bleiben, denkt ein von dem Buch sehr berührter Rezensent, bis Christopher sie zur Heilung von dem Schmerz des Verlassenwerdens nicht mehr braucht.

Peter Carnavas, Die wichtigen Dinge, Carl Auer Verlag 2015, ISBN 978-3-8497-0067-6

Gastbeitrag von Winfried Stanzick

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